Erzbischöfliche St.-Anna-Schule

Handlungsbedarf

von Charlotte Rose (Q2, Abi 2015)

 

Ein kühler Windstoß empfängt mich, als ich das Gebäude verlasse. Sprühregen. Sturmböen. Alles vereint zu reiner Kälte auf meinen Händen und meinem Gesicht. Ich ziehe den Schal noch ein bisschen höher – bis zur Nasenspitze – und kneife die Augen etwas zusammen. Herbstwetter im Winter.
Der Bus fährt mich in die Innenstadt. Die Scheiben sind beschlagen. Die Welt dahinter ist nur schemenhaft zu erkennen. Changierende Farbknubbel auf grauem Grund. Manche Menschen reden miteinander, die meisten schweigen sich an oder trinken bitteren Kaffee aus bunten Pappbechern. Er soll die Müdigkeit, die Trägheit des harten Arbeitstages vertreiben, der hinter ihnen liegt, aber eigentlich betäubt er nur die Geschmacksnerven. Vielleicht hätte ich mir auch einen holen sollen. Morgen ist ja auch noch ein Tag.
Eine ältere Frau steigt ein und der Kerl neben mir bietet ihr seinen Platz an. Ich sage nichts, sondern beobachte, wie er der Dame hilft, sich zu setzen und ihre Beutel so um sie herum zu drapieren, dass sie nicht umfallen. Ich muss an der nächsten Station aussteigen. Ich sage trotzdem nichts. Sie wird gleich aufstehen müssen.
Der Hauptbahnhof ist überfüllt und dreckig. Vor ein paar Jahren noch konnte man sich hier im Sommer ohne Bedenken auf den Boden setzen, wenn die Bahn Verspätung hatte. Jetzt müssen sich sogar die Obdachlosen Decken organisieren, um sich hier beim Betteln und Rumlungern keine gefährlichen Krankheiten oder Rattenbisse einzufangen.
Ein kleiner Junge läuft ein paar Schritte neben mir her und sieht dann bittend zu mir auf, als ich mir eine neue Fahrkarte ziehe. Ich ignoriere das. Trotz meines schlechten Gewissens drücke ich die Knöpfe, füttere den Automaten nach drei Anläufen mit einem Zehn-Euro-Schein und stecke das Wechselgeld mit dem Ticket in das Münzfach meines Portemonnaies. Der Junge bleibt stehen. Er kriegt nichts von mir. Morgen ist ja auch noch ein Tag, denke ich und gehe gemächlich zum Gleis. Der Junge tut mir leid, aber nicht genug, um zurück zu gehen. Ich werde ihn bestimmt noch mal wieder sehen.
Die Bahn, die mich eigentlich nach Hause bringen soll, kommt eine Viertelstunde zu spät. Super. Vermutlich verpasse ich jetzt die Nachrichten. Eigentlich wollte ich ja wieder anfangen, mich für die Welt zu interessieren, aber Politik war noch nie mein Ding. Morgen ist auch noch ein Tag. Trotzdem ärgert es mich. Vielleicht bin ich doch noch rechtzeitig zuhause – wenn ich mich nur beeile. Mist.
Das Viertel, in dem mein Cousin und ich unsere WG eröffnet haben, liegt höher als der Campus, von dem ich gerade komme. Immer mal wieder trete ich auf gefrorene Pfützen und rutsche fast aus. Als wäre Hektik bei so einem Wetter nicht schon anstrengend genug!
Plötzlich rutschen meine Beine unter mir weg und mein Po knallt auf das kalte, feuchte Eis. Ich bleibe einen Moment verdattert sitzen, aber es hilft ja nichts. Raphael ist schon zuhause – hat er vorhin geschrieben – und ich muss Nachrichten schauen und was weiß ich nicht alles machen… Mitbewohner nerven!
Mein Hosenboden ist immer noch klamm und mein Becken schmerzt, als ich mit zitternden Händen die Haustür aufschließe und in den zweiten Stock in unsere Wohnung steige. Raphael steht in der Küche. Er ist der einzige, der hier kocht. Ich kann es nicht und bei ihm wird es meistens gut. Ohne Umwege marschiere ich ins Wohnzimmer und schalte den Fernseher an. Nachrichten.
Ich muss schneller gewesen sein als ich angenommen habe. Statt den Nachrichten sehe ich mir erst den Rest der Sportschau an. Es ist nicht mal die richtige – ich schaue einen privaten Sender. Dann kommen die eigentlichen Nachrichten. Ich seufze.
Es kommt nichts Ungewöhnliches. Eigentlich hätte ich mir schon vorher denken können, was mir die schlecht frisierte Frau erzählen will. Krieg in einem weit entfernten Ort – ein weißer Fleck auf der Landkarte. Politiker beschließen Dinge, die nichts mit mir zu tun haben – spanische Dörfer in der großen Politik. Irgendwas mit Sport – namenlose Muskeln, die sich bewegen können. Das Wetter.
Die Stimme der Nachrichtensprecherin prophezeit mir weiterhin beschissenes Wetter. Ich schalte den Fernseher ab. Mein Hintern tut immer noch weh. Vielleicht sollte ich neue Winterschuhe mit Profil kaufen. Dann rutsche ich nicht noch mal aus. Wenn das Wetter so bleiben soll, lohnt sich das sogar.
Ein schlechter Spielfilm fängt an und ich schalte die Flimmerkiste ab. Mittlerweile riecht es in der ganzen Wohnung nach geschmolzenem Käse. Er hat Auflauf gemacht.
Ich gehe in die Küche. Da steht die dampfende Auflaufform, daneben ein Zettel – is’ ohne Erbsen, wie du es magst. Bedien’ dich – und ein leerer Teller. Ich verziehe mich mit meiner Portion in mein Zimmer, kralle mir eine Illustrierte und setze mich vor den Rechner.
Facebook – Mitgefühl mit Likes ausdrücken. Auf Youtube laufen im Hintergrund Musikvideos. Ich lese den Blog einer Freundin, die gerade in Peru eine behindertengerechte Schule baut. Ich beschließe, ihr zu schreiben. Ich vermisse sie. Ich bewundere sie. Manchmal überlege ich, ob ich sein könnte, wie sie. Tun könnte, was sie tut.
Ich denke wieder an den Jungen vom Bahnhof und schüttele den Kopf. Das ist was vollkommen anderes.
Ich kann bestimmt selbstlos sein und anderen helfen und barrierefreie Schulen bauen. Natürlich könnte ich das, aber ich bin nun mal nicht da, wo sie ist. Ich bin hier. Ich studiere. Ich jobbe. Ich habe Verantwortung. Ich bin hier, aber ich könnte es, wenn ich dort wäre. Irgendwann mal werde ich vielleicht auch dort sein. Ich könnte mich gleich mal informieren. Ich schaue auf die Uhr und muss sofort gähnen, als ich die leuchtende 22 sehe. Morgen ist auch noch ein Tag.
Eilig schlinge ich die lauwarmen Auflaufreste hinunter und schreibe die Mail an Maria fertig. Sie soll die Kiddies grüßen und ein Meerschweinchen für mich mit essen – ich habe mal gehört, dass man das in Peru macht. Irgendwie befremdlich, aber seit ein paar Monaten schwärmt sie schon davon, also muss es gut sein. Auch das könnte ich. Mich anpassen und in eine andere Kultur eintauchen.
Bevor ich mich hinlege, bestelle ich noch neue Winterschuhe. Sie werden wohl übermorgen ankommen. Sehr gut.
Keine halbe Stunde liege ich zufrieden in meinem Bett. Heute war ein guter Tag. Ich habe Nachrichten geguckt. Raphael hat gut gekocht. Ich habe endlich mal wieder eine Mail an Maria geschrieben. Ich habe die neuen Schuhe bestellt. Ein guter Tag.
Ich schlafe mit einem kleinen Lächeln ein und schlafe den Schlaf der Gerechten, der Macher. Heute habe ich viel geschafft.
Es tut gut zu handeln.
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